Immanente Mechanismen in Medienlandschaft und Gesundheitsmarkt haben dazu geführt, dass die Begriffe "Anti-Aging" und „Anti-Aging-Medizin“ mit bisweilen entgegen gesetzter Konnotation bewertet werden. Die Spannbreite reicht von übertriebenem Enthusiasmus bis hin zu pauschaler Ablehnung. In der Publikumspresse wird – mit wenigen Ausnahmen – aufgrund der für Journalisten fast lebenswichtigen Notwendigkeit zur Skandalisierung hyperkritisch über das Thema Anti-Aging-Medizin berichtet. Genaue Sachkenntnis fehlt jedoch oftmals.
Indes ist Anti-Aging-Medizin im angelsächsischen Sprachraum eine seit Jahren anerkannte und praktizierte wissenschaftliche Disziplin mit dem Ziel, vorzeitige Alterungsprozesse beim Menschen zu verzögern, aufzuhalten oder gar umzukehren. Die Bezeichnung „Anti-Aging“1 wird international in wissenschaftlichen Journalen ganz selbstverständlich neben den Begriffen „Biogerontology“ oder „Preventive Medicine“ verwendet und bedeutet im Einzelnen: Erkennung von gesundheitlichen Risiken für die Entwicklung chronischer Krankheiten wie Arteriosklerose (mit den Endstadien Herzinfarkt, und Schlaganfall), Osteoporose, Demenz, Krebserkrankungen und deren gezielte Prävention. Getreu aus dem Englischen übersetzt bedeutet „Anti-Aging-Medizin“, alterstypische Erkrankungen zu behandeln mit dem Ziel einer Verlängerung der gesunden - und absoluten Lebensspanne. Nicht gemeint ist, wie von Kritikerseite oft unterstellt, das Negieren des Phänomens, kalendarisch zu Altern, oder dieses Faktum zu stigmatisieren. Es geht letztlich um die Herstellung und den Erhalt der optimalen körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit in jeder Phase des Lebens.
In der Praxis ist Anti-Aging-Medizin letztlich ein intensives Case-Management, das dem erweiterten biopsychosozialen Grundmodell der WHO von Krankheit folgt, der International Classification for Functioning. Die allenthalben bekannten demografischen Veränderungen werden bis 2030 zu einer Umschichtung der Rangfolge der fünfzehn Hauptkrankheits- und Todesursachen führen2, auf die es sich einzustellen gilt. Ein Unterschied zur rationierten Kassenmedizin ist, dass die im privatmedizinischen Bereich arbeitenden Anti-Aging-Mediziner auf wesentlich mehr Zeit pro Patient zurückgreifen können. Hinzu kommen innovative Diagnostikverfahren (Bildgebung und Labor).
In Sonntagsreden fordert die Politik von der Bevölkerung – durchaus berechtigt – mehr Eigenverantwortung für die Erhaltung der individuellen Gesundheit ein. Dies erfordert dann aber auch die Möglichkeit für den Einzelnen, Zugang zu Informationen über Gesundsein und Krankheitsrisiken zu erlangen sowie die Option, ein gewisses Maß an Selbstmedikation zu betreiben. Am Ende steht sowohl für harte klinische Fragestellungen, aber auch für Anti-Aging-Interventionen eine partizipative Entscheidungsfindung bei der Patient und Therapeut alle Maßnahmen auf der Basis der bestmöglichen Kommunikation gemeinsam treffen. Die dazu erforderliche Zeit zum Wissenstransfer vom Arzt auf den Patienten wird im kassenärztlichen Bereich nicht annähernd ausreichend vergütet und auch in der Privatmedizin werden ärztliche Gespräche mit dem Patienten noch zu schlecht bezahlt.
Auch außerhalb der so genannten Leitlinienmedizin muss verantwortlich beraten und im Sinne der Patienten navigiert werden. Jenseits der Grenze kassenärztlicher Leistungen liegen Therapieoptionen und Diagnostikverfahren, die hohe Evidenzgrade in der EBM-Skala einnehmen. Dies betrifft sämtliche Bereiche: Prävention von Gesundheitsrisiken, intensive Trainings- und Behandlungspläne, Intervention bei chronisch-degenerativen Alterskrankheiten sowie die Verordnung von orthomolekularen Supplementen (Vitamine, Mineralstoffe, Spurenelemente, ergogene Substanzen3, Botanicals4, Aminosäuren, gesunde Fette, Hormonvorstufen5 und Hormone6).
Möglicherweise kommt es in Zukunft, wenn Stammzelltechnologie und neue pharmakologische Eingriffsmöglichkeiten, wie RNA-basierte Medikamente, Telomerenmanipulation, u.v.m. verfügbar sind, zu einer großen Konvergenz zwischen Schulmedizin und Anti-Aging-Medizin. Dass wir und unsere Kinder dann aber weitaus länger werden arbeiten müssen als bis Siebenundsechzig, sollte jedem klar sein und wird wohl auch freudig akzeptiert werden.
Der – gemessen an seiner gesellschaftlichen Bedeutung – nicht unwichtige Teil der Ästhetik wird oft mit der Anti-Aging-Medizin als solcher verwechselt oder gar in Unkenntnis der Dinge mit ihr gleich gesetzt. Kosmetische Korrekturen sind indes eine legitime Option für alle Menschen. Insbesondere dann, wenn die Betreffenden stark unter einem etwaigen Makel leiden. Dies mag mitunter sehr subjektiv sein, und weltweit findet sich zweifellos ein ungebrochener Trend zu immer mehr ästhetisch-ärztlichen Engriffen statt. Sicher ist auch hier mit Sorge auf Übertreibungen und Extreme zu verweisen.
Ästhetische Belange gehören jedoch auch zum Gesamtkontext der Prävention. Führt doch ein erfolgreich durchgeführtes und komplettes internistisches Anti-Aging Programm nahezu immer auch zu einem besseren ästhetischen Gesamtergebnis. Beispiele hierfür sind die Verbesserung der Hautbeschaffenheit unter einer lege artis durch geführten hormonellen Therapie, oder die Verbesserung der Körperzusammensetzung und der Körperhaltung durch regelmäßiges Kraft- Ausdauertraining in Kombination mit effektiven Proteinsupplementen und ergogenen Mikronährstoffen. Im Falle operativer Eingriffe im Bereich der ästhetischen Chirurgie sind wir der Auffassung, dass Personen, die sich diesen unterziehen von einem begleitenden konservativen Anti-Aging Programm zusätzlich profitieren (Wundheilung, kosmetisches Resultat, kürzere Rekonvaleszenz). Für die Behandlung der Haut im Gesicht, des Halsen und dem Dekoltee existieren effektive Hormoncremes die wir zur Langzeitanwendung verschreiben können.
Zu einer qualitätsgesicherten Anti-Aging-Beratung gehört eine genaue Diagnostik mit entsprechenden Fragen (Anamnese) zum Lebensstil (Ernährung, körperliche Aktivität, Sport, Genussmittel, Stress, psychosoziale Situation) und eine ausführliche Familienanamnese (im Blick auf die familiären Risiken für chronische Erkrankungen). Hinzu kommt eine ausführliche Gesundheits- und Leistungsdiagnostik, mit der die funktionelle Beschaffenheit unterschiedlicher Organbereiche (Muskulatur, Herz-Kreislaufsystem, Lungenfunktion, Gehirnfunktion, Gelenke etc.) ermittelt wird. Mittels Labortests werden die Synchronizität der verschiedenen Hormonachsen und auch das Abwehrpotential gegenüber niedrigschwelliger Entzündung und überschießender pro-oxidativer Stoffwechsellage im Blut ermittelt, sowie die Spiegel wichtiger Vitamine (Vitamin B6, Vitamin B12, Folsäure, 25-OH-Vitamin D u.v.a.), unterstützender Moleküle (L-Carnitin, Coenzym Q10) und Stoffwechselmarker (Homocystein, glykosyliertes Hämoglobin u.v.a.) gemessen.
Die sich anschließende Anti-Aging-Therapie basiert auf den Resultaten der Labortests, und besteht aus einer Kombination von
individueller Ernährungsberatung, Sport- und Fitnessprogrammen, spezifischen Trainingsprogrammen für kognitive Funktionen sowie der Verordnung hochwertiger Nahrungsergänzungsmitteln (NEM). Moderne NEM enthalten, nicht mehr nur isolierte Vitamin- und Mineralstoffe, wie in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts. Sie inkludieren vielmehr heute zusätzlich hochwertige Extrakte aus gesundheitsfördernden Gemüsesorten und Früchten, sogenannte Botanicals oder sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe und „gute Fette“ wie Eiscosanoide aus Kaltwasserfisch oder einfach ungesättigte Fette pflanzlichen Ursprungs.
Je nach Befund erfolgt im Einzelfall eine gezielte, vornehmlich bioidentische Hormontherapie.
Eigentlich ist nicht extra zu betonen – um Missverständnissen vorzubeugen, sei es dennoch erwähnt –, dass sämtliche als sinnvoll erachtete Optionen der modernen Leitlinienmedizin (Pharmakotherapie, Diagnostikverfahren etc.) in der Anti-Aging-Medizin gleichermaßen zur Anwendung kommen.
Es ist nicht immer möglich, für alle Fragestellungen und Kombinationen präventiver Maßnahmen randomisierte, kontrollierte Studien (randomized controlled trials, RCTs) durchzuführen. Die Anzahl der Permutationen für entsprechende Studien, in denen eine Intervention gegen Placebo oder den bisherigen Standard zu testen wäre, ist einfach zu hoch. Der Umstand oder auch das Dilemma, dass sich für konkrete Situationen in der Anti-Aging-Medizin – aber auch in anderen Medizinfeldern – keine Evidenzklasse-17 findet, sollte jedoch nicht zu therapeutischem Nihilismus führen. Gerade hier ist das Element der bereits erwähnten partizipativen Entscheidungsfindung zwischen Arzt und Patient von größter Wichtigkeit. Dem in diesem Fall zum Klienten werdenden noch leidlich gesunden Patienten sollte der Umstand des Fehlens ultimativer Beweise – einerseits – die große Wahrscheinlichkeit des Nutzens empfohlener Verfahren aus Empirie und Daten niedriger Evidenzränge – andererseits – präzise erläutert werden. Auch dies wiederum, benötigt Zeit.
Sacket, einer der Urväter des Konzeptes der Evidenz-basierten Medizin, schrieb 19978: „Evidenz-basierte Medizin ist [auch] nicht auf randomisierte, kontrollierte Studien und Metaanalysen begrenzt. Falls keine kontrollierte Studie für die besondere Situation unseres Patienten durchgeführt wurde, müssen wir die nächstbeste externe Evidenz finden und berücksichtigen.“
Es geht am Ende auch darum, den sogenannten „grauen Markt“ nicht den fragwürdigen Akteuren im Gesundheitsmarkt zu überlassen, sondern: Dem zu Recht im harten klinischen Alltag präcautionalen Prinzip (nihil nocere) das proaktive Prinzip an die Seite zu stellen.
Trotz der soliden Grundlagen im Bereich "Alterungsprävention" bzw. Anti-Aging-Medizin wurde die Anti-Aging-Medizin in ihren Anfängen in der akademischen Fachwelt teilweise skeptisch betrachtet. Dies mag einer reflexartigen Neigung zur Skandalisierung im Kollektiv der Medienschaffenden geschuldet sein sowie auch einer gewissen Neophobie etablierter Fachkreise. Die Zukunft wird zeigen, welche Begrifflichkeit sich für diese offensive und optimale Form der Präventionsmedizin etabliert. Eine "Wunderkur" – und dies sei betont – ist auch in der Anti-Aging-Medizin nicht möglich. Im Deutschen Ärzteblatt9 erschien am 16.07.2007 ein sehr guter Übersichtsartikel zur Anti-Aging-Medizin für Fachkreise.
1 Blagosklonny MV. An anti-aging drug today: from senescence-promoting genes to anti-aging pill. Drug Discov
Today 2007; 12 (5-6): 218-24.
2 Mathers CD, Loncar D. Projections of Global Mortality and Burden of Disease from 2002 to 2030. PLoS
Medicine 2006; 3 (11) 2012-30.
3 Kreatin, L-Carnitin, alpha-Liponsäure, Coenzym Q10 u. v. m.
4 Catechine aus grünem Tee, Curcumin, Resveratrol, Granatapfel, oligomere Proanthocyanidine (OPC).
5 5-Hydroxytryptophan, diverse Aminosäuren.
6 Pregnenolon, DHEA, Testosteron, Progesteron, 17-ß-Östradiol, Östriol, Testosteron, Melatonin.
7 www.cochrane.de/de/ebm
8 Sackett DL et al. Was ist Evidenz-basierte Medizin und was nicht? Münch Med Wschr 1997; 139 (44): 644-45.
9 Kleine-Gunk B. Anti-Aging-Medizin – Hoffnung oder Humbug? Deutsches Ärzteblatt 2007; 104 (28-29): A-2054 / B-1813 / C-1749. http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikeldruck.asp?id=56301